Nehmen Sie an, ein Freund schuldet Ihnen noch 100 €. Gerade als er Ihnen seine Schulden zurückzahlen will, möchten Sie ihm sein Fahrrad abkaufen. Sie einigen sich auf einen Kaufpreis von ebenfalls 100 €. Da erscheint es doch naheliegend und praktisch, dass beide ihr Portemonnaie stecken lassen und der Kaufpreis gegen die Schulden einfach verrechnet wird. Wer aber dieselbe Logik in einer Beziehung anwendet und auf diese Weise gegenseitig Anerkennung und Wertschätzung verrechnet, der hat sich verrechnet.
* = Es ist sowohl die männliche wie weibliche Form gemeint.
Leider begegne ich aber genau diesem Phänomen häufig bei den Paaren, die ich in meiner Praxis begleite. Oft zeigt sich relativ schnell, dass sich die Partner* vom jeweils anderen* mehr gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung wünschen. Kaum ist dieser Wunsch von beiden ausgesprochen bzw. gehört worden, beginnt meist sofort, fast instinktiv eine Phase der Rechtfertigung und Verteidigung: Man habe ja selbst mindestens eben so viel für die Partnerschaft und Familie geleistet wie die andere*, dies würde ja auch für selbstverständlich genommen und nicht gesehen und man sei daher also quitt.
Wunsch nach Wertschätzung gegenseitig anerkennen
An diesem Punkt biete ich dem Paar eine andere Perspektive und Handlungsoption an. Statt in Abwehr und Verteidigung zu verfallen, um das bisherige Verhalten zu rechtfertigen, schlage ich vor, zunächst den meist beidseitigen Wunsch nach mehr Wertschätzung gegenseitig anzuerkennen. Und im zweiten Schritt geht es dann eben genau darum, zukünftig die Wertschätzung der Partnerin* gegenüber auch zum Ausdruck zu bringen, und nicht, wie die beiden Freunde aus der Einleitung, einfach stillschweigend zu verrechnen.
Vor dem Anerkennen steht das Erkennen. Um dem Anderen* also die gewünschte Wertschätzung entgegen bringen zu können, müssen wir uns zunächst dafür öffnen, dessen* Leistung und Tun für die Familie und Partnerschaft zu erkennen und auch zu würdigen. Es mag etwa Zeit des Bewusstwerdens und Übens vergehen, bis wir gelernt haben, das vermeintlich Selbstverständlich, „das wir ja schließlich auch tun“, beim Partner* wirklich zu würdigen. Und es mag noch weitere Zeit vergehen, bis wir diese Würdigung und Anerkennung der Partnerin* gegenüber auch mit Worten ausdrücken können.
Alle Lernprozesse brauchen Geduld
Wie bei allen persönlichen Lern- und Erweiterungsprozessen ist es aber nicht so entscheidend, wie schnell die Entwicklung vorankommt, sondern dass Sie sich auf den Weg machen. Lassen Sie also sich und Ihrem Partner* gegenüber Geduld und Nachsicht walten und wertschätzen Sie auch kleine Fortschritte und Veränderungen.
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